Aloha ihr Lieben,
heute mal ein ernsteres Thema
Der Autor des folgenden Textes Henning Sußebach hat sich sehr intensiv mit dem Thema Schulzeit, lernen, Freizeit und G8 - G9 auseinander gesetzt und einen großartigen Artikel dazu veröffentlicht.
Er ist bereits vor ein paar Jahren in "Der Zeit" erschienen und liegt inzwischen auch in erweiterter Form als Buch vor.
Doch was hat sich seither getan? Haben unsere Kinder nicht immer noch einen Randvollen Stundenplan? Wiegen ihre Rucksäcke nicht immer noch viel zu viel von all den Büchern die sie schleppen müssen? Sind Ganztagesschulen wirklich die Lösung? und darf ein Kind nicht auch einmal schlechte Noten haben?
Henning Sußbach schreibt diesen Brief seiner Tochter und versucht ihr zu erklären warum sie Nachmittags keine Zeit mehr für ihrer Freunde hat und warum es ab und an sinnvoll ist NICHTS zu tun.
Doch lest selbst:
Liebe Marie,
Warum
müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu treffen? Weshalb
dieser Unsinn? Henning Sußebach versucht, es seiner Tochter in einem
Brief zu erklären.
Musik statt Mathe: Neben der Schule darf die Freizeit nicht verloren gehen.
Liebe
Marie, erinnerst Du Dich noch an den Tag, an dem wir das letzte Mal im
Kino waren? An diesen Tierfilm, den Du so gerne sehen wolltest? Wie hieß
der bloß noch? Ich glaube, Tiger, Bären und Vulkane, aber sicher bin
ich mir nicht. Denn unser Ausflug liegt schon ein paar Monate zurück.
Wir sind alle zusammen mit dem Auto in die Stadt gefahren: Mama, Henri,
Du und ich. Es war Sonntag – und wir beide saßen mit Karteikarten auf
der Rückbank und haben gelernt. Wie viel ist 172? Wie viel 56? Wie viel
28? Auf dem Weg nach Hause dann noch mal: 27 = 128, 182 = 324, 56 =
15625. Und noch mal. Und zur Sicherheit gleich noch mal.
Wir
hätten so viel Sinnvolleres tun können auf unserem Heimweg! Den Bildern
der Bären nachhängen und Bonbons lutschen zum Beispiel. In dem Zauber
verweilen, den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als
laufe man erwachend durch einen Traum. Aber noch nicht mal an einem
Sonntag ist es mir gelungen, Dich das Kind sein zu lassen, das Du sein
solltest mit zehn Jahren.
Bitte mach mir diesen Mist nicht nach, wenn Du erwachsen bist, Marie!
Du
merkst schon: Der Brief, den ich Dir schreibe, ist eine verzwickte
Angelegenheit. Du wirst ihn genau lesen müssen, damit Du alles
verstehst. Und dass Du verstehst, ist wichtig: Denn es geht um Dein
Leben und um das, was wir Erwachsenen daraus machen.
Ich
werde Dir von Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben.
Von Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die
ihre Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich
wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land, das
Euch alle zu Strebern macht.
Deshalb habe ich meinen Brief
auch nicht auf Deinen Platz gelegt, dort am Küchentisch, an dem wir
morgens Einkaufszettel schreiben und abends Vokabeln lernen: Wie lautet
das englische Wort für Gummistiefel, Stiefvater, Drachenfestival,
Schiffsausguck, Küstenstadt, Karaoke-Gerät, Schatzkarte, Gartenschuppen,
Geschmacksrichtung Hühnchen? Ich schreibe diesen Brief in der Zeitung,
weil es noch 275.000 andere Fünftklässler in Deutschland gibt, die ein
Gymnasium besuchen wie Du. Die gerade wie Du für die letzten Arbeiten
vor den Zeugnissen büffeln. Und die wie Du trotzdem nur mit halbem Ohr
diese rätselhaften Wörter hören:
In diesem Brief, Marie,
möchte ich Dir und Tausenden anderer Schulkinder etwas verraten. Es gibt
da ein paar Geheimnisse, von denen Ihr nichts ahnt, denn jedes Kind
nimmt die Welt ja erst einmal als gegeben hin. Stopp, das war zu
kompliziert! Ich meine: Ein Kind hält sein Leben, so wie es ist, für
ganz normal. Woher soll es wissen, dass alles auch anders sein könnte?
Oder wie die Erwachsenen gelebt haben, als die noch klein waren? Dieses
Hinnehmen ist schön, weil Ihr nicht so viel grübeln müsst: »Was wäre,
wenn...?« Aber es macht Euch auch da fügsam, wo Auflehnung angebracht
wäre.
Du hast jeden Tag sieben Stunden Schule und weißt
nicht, dass ich als Kind niemals täglich sieben Stunden hatte, in keinem
einzigen Schuljahr. Dass ich nachmittags allenfalls vor dem Abitur so
viel gelernt habe wie Du jetzt in der fünften Klasse, und niemals auf
dem Weg ins Kino. Und dass ich heute manchmal so tue, als müsste ich
noch arbeiten, wenn ich abends nach Hause komme und sehe, wie Du über
Grammatik-Arbeitsblättern sitzt: Kreuze die richtigen Aussagen an! Der
Genus ist das grammatische Geschlecht eines Nomens / Nomen können im
Singular und im Plural auftreten. Dies nennt man den Kasus des Nomens /
Der Numerus ist der Fall, in dem ein Nomen steht / Man kann
Präpositionen steigern / Der bestimmte Artikel gibt im Nominativ
Singular das grammatische Geschlecht eines Nomens an / Der Imperativ
gehört zu den finiten Verbformen / Präsens wird benutzt, wenn man über
etwas sagen kann: Es war gestern so, ist heute so und wird auch morgen
so sein / Das Partizip I gehört zu den infiniten Verbformen / Verben
kann man deklinieren. Ich hefte dann Rechnungen ab, schreibe EMails und
sortiere Zeugs. Ich will nicht freihaben, solange Du noch arbeitest. Ist
das nicht verrückt? Irgendjemand hat die Welt verdreht! Nur wer?
Weißt
Du: Das alles ist nicht einfach so passiert. Die freie Zeit ist nicht
einfach so verschwunden. Wir Erwachsenen haben Euch ein Jahr Eurer
Kindheit gestohlen. Aus Eile und Angst.
Wie soll ich Dir das erklären?
Ich
versuche es mal so: Unser Leben ist voller Reichtum und Mangel
zugleich. Es gibt so viel Essen, dass wir die Reste wegwerfen. Nichts
ist richtig knapp, außer manchmal Klopapier. Doch was uns fehlt, ist
Zeit. Jedenfalls glauben wir das.
Wir Erwachsenen schauen
selten im Kühlschrank nach, ob noch Käse oder Wurst da ist – aber wir
gucken ständig auf die Uhr. Wir klagen dauernd über »Stress« – doch wenn
wir nichts zu tun haben, fühlen wir uns nutzlos. Wir sind genervt, wenn
der Chef uns auch am Wochenende anruft – aber eifersüchtig, wenn ein
anderer Kollege mehr Anrufe bekommt. Unsere Computer sind voller
Updates und Reminder, unsere Köpfe können Wichtiges von Drängendem nicht
mehr unterscheiden – und den Sonntag nicht vom Montag. Das ist die
Hast, die ich meine. Deine Großeltern haben seit 40 Jahren dieselbe
Telefonnummer, wir haben unsere seit Deiner Geburt zweimal gewechselt –
und noch zwei Handynummern dazugekriegt, damit wir immer erreichbar
sind. Ein Brief war früher Tage unterwegs, eine Mail ist heute
augenblicklich da. Die ganze Welt ist in einen Wettlauf geraten, den wir
Erwachsenen »Globalisierung« nennen: Wer näht die billigsten T-Shirts?
Wer baut die schnellsten Autos? Wer erfindet zuerst neue Telefone und
Computer, die uns noch rasanter updaten und reminden können?
Irgendwann
haben wir Deutschen gemerkt, dass die Kinder in anderen Ländern noch
schneller lernen als unsere. Dass sie in China früher damit anfangen und
in Amerika früher damit aufhören. Und gleich arbeiten. Da hat uns die
Angst gepackt. Wir haben uns nicht gefragt, ob es klug ist, zu lernen
wie die Chinesen. Wir haben nur gedacht: Bevor die uns einholen, beeilen
wir uns auch.
Und noch etwas kam hinzu. Etwas, das mit
Deutschland zu tun hat: das sogenannte Demografieproblem. Es gibt zu
wenige Kinder aber dafür viele alte Menschen. Aber das siehst Du ja,
weil zu unseren Familienfesten mehr Onkel und Tanten kommen als Cousins
und Cousinen. Ich hatte lange gedacht, dieses Demografieproblem werde
Dein Leben als Erwachsene prägen. Jetzt bestimmt es schon Deine
Kindheit. Denn wer früher die Schule verlässt, kann länger arbeiten. Und
wer länger arbeitet, kann uns, wenn wir alt und müde sind, länger Geld
für die Rente geben.
Schon 1993 (als uns die Chinesen noch
egal waren und es keine Schulvergleiche gab) passierte es: Da empfahlen
die Finanzminister aller deutschen Bundesländer, Euch ein Schuljahr
wegzunehmen. Nicht die Kultusminister, die sich um die Schulen kümmern!
Sondern die Politiker, die aufs Geld aufpassen, die Zahlen statt
Menschen sehen und deshalb wissen: Jeder Gymnasiast kostet 5000 Euro im
Jahr. Geld für die Lehrer, den Hausmeister, die Tafeln und Turnmatten.
Allein an Dir und Deinen 27 Klassenkameraden konnten sie also 140.000
Euro sparen.
Deshalb wurde Euch ein Jahr aus der Schulzeit
gestrichen – aus dem Lernstoff aber strich man nur wenig. Ihr sollt auf
dem Gymnasium in acht Jahren begreifen, wofür Eure Eltern noch neun
Jahre Zeit hatten. Unseren Mangel an Zeit – wir haben ihn zu Eurem
gemacht.
Deshalb hast Du jetzt eine 40-Stunden-Woche
voller Unterricht und Hausaufgaben. Deshalb hast Du vor wenigen Monaten
das Gitarrespielen aufgegeben. Deshalb telefonierst Du die halbe
Klassenliste rauf und runter, bis Du jemanden zum Spielen findest. Alle
sind beschäftigt.
So kommt ein kleiner Raub an Freizeit
und Freiheit zum anderen, jeder für sich kaum der Rede wert. Aber wenn
man alle zusammenrechnet, in jeder Familie zwischen Nordsee und Alpen,
kommt eine große Statistik der Überforderung dabei heraus: Ein Viertel
aller Gymnasiastinnen klagt regelmäßig über Kopfweh, das hat die
Krankenkasse DAK herausgefunden. Kinder sagen ihre Teilnahme an
Geburtstagsfeiern ab. Sie treten aus Sportvereinen und Chören aus. In
Schleswig-Holstein, unserem Bundesland, sind die Teilnehmerzahlen bei
»Jugend forscht« eingebrochen, dabei wollte Deutschland doch möglichst
schnell möglichst viele möglichst junge Ingenieure. In Baden-Württemberg
hat sich die Zahl der Fünft- und Sechstklässler, die nachmittags in
Nachhilfe-Instituten nachsitzen, fast verdreifacht. Sie haben plötzlich
das Gefühl, nicht gut genug zu sein – obwohl sie gar nicht schlechter
geworden sind! Drei Milliarden Euro investieren nervöse Eltern jedes
Jahr in die Nachhilfe, 20 Prozent von ihnen mehr als 200 Euro im Monat.
Das sind 2400 Euro im Jahr. Fast so viel, wie die Finanzminister an Euch
gespart haben. Das macht den Reichen nichts aus, aber den Armen umso
mehr. In Internetforen werden »Pillen fürs Abi« empfohlen:Ampakin –
eigentlich für alte Leute mit Alzheimer – für mehr Gehirnleistung.
Fluoxetin – eigentlich gegen Depressionen – für mehr
Leistungsbereitschaft. Metroprolol – eigentlich gegen Bluthochdruck –
für weniger Prüfungsangst. Und an Deinem Gymnasium hat eine
»Wirtschaftspsychologin« uns Eltern vor einigen Tagen erklärt, woran wir
bei Euch einen Burn-outerkennen. Das bedeutet, dass manche Kinder jetzt
schon ausgebrannt sind – wie überarbeitete Erwachsene.
Ich
habe einen Professor für Soziologie angerufen. Soziologen erforschen,
warum die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Warum wir so leben, wie wir
leben. Der Professor heißt Hartmut Rosa und ist 45 Jahre alt, hat aber
noch nicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein. Deshalb hat er etwas
geschafft, was Professoren selten schaffen: Er hat ein Buch
geschrieben, das auch normale Menschen lesen können. Es heißt
Beschleunigung und handelt von unserer täglichen Raserei.
Hartmut
Rosa sagt, er macht sich Sorgen, weil Eure Kindheit so »vernutzt« ist.
Dass alles einen Zweck hat, einen Sinn erfüllen muss. Dass wir Euch
sogar dann, wenn wir Euch Gutes tun wollen, bloß wieder auf ein Leben
als Erwachsene vorbereiten. »Es ist wichtig, körperlich fit zu sein und
musikalisch, gesund zu essen, Freunde zu haben – und sich entspannen zu
können!«, sagt er. Hartmut Rosa will, dass wir Erwachsenen Euch endlich
in Ruhe lassen. Ein Kind soll im Jetzt leben und nicht dauernd ans
Morgen denken. Ein Kind soll ganz bei sich sein dürfen, nicht für andere
da sein müssen. Ein Kind soll die Muße haben, mit etwas zusammen zu
wachsen. Das kann ein Baum sein, eine Straße, ein Fußballplatz, ein
Tier.
Vor allem fordert Hartmut Rosa: Ihr Kinder müsst
Euch wieder langweilen dürfen. Denn irgendwann wird aus Langeweile
Bewegung, ein Stromern und Streunen, das ziellos ist und doch an tausend
Orte führt. Den schönsten Augenblicken der Kindheit geht die Langeweile
voraus. Wer Langeweile hat, kommt auf die verrücktesten Ideen. »Die
allermeisten Menschen würden im Rückblick doch sagen: Die endlos langen
Sonntagnachmittage, an denen eigentlich nichts passierte, waren die
Momente, in denen ich meine Seele spürte. In denen ich lernte, mich
selber zu ertragen.« So sagt es Hartmut Rosa.
Ganz sicher
ist der Rückblick in die eigene Kindheit weichgezeichnet von
Gefühlsduselei. Aber ich kann nur von meiner Kindheit erzählen: Ich bin
groß geworden in einer Welt, in der es nicht pausenlos piepte und
ploppte, niemand twitterte und livetickerte, in der Computer dick und
braun waren wie Brotkästen und nur bei pickligen Stubenhockern in
verdunkelten Kinderzimmern standen. Wenn ich mit jemandem spielen
wollte, habe ich keine Klassenliste abtelefoniert, sondern beim Nachbarn
geklingelt und gefragt: »Kommt der Christian raus?«
Als
Fünftklässler habe ich endlose Nachmittage in der festen Überzeugung
verbracht, der berühmte Fußballspieler Karl-Heinz Rummenigge zu sein –
auch wenn ich meinen Lederball nur gegen Garagentore gedroschen habe.
Mal allein, mal mit Freunden, mal mit fremden Jungen aus fremden
Vierteln, rauen Burschen mit rauer Sprache, Hauptschülern, die der
Zufall in meine Straße geführt hatte. Ich habe mich auf aufregende Weise
gelangweilt! Jeden Schritt, jeden Schuss kommentierte eine innere
Reporterstimme: »Was für eine Körpertäuschung! Mit diesem Volleykracher
sichert sich Kalle Rummenigge die Torjägerkanone! Inter Mailand hat
hundert Millionen für ihn geboten!« Später war ich Boris Becker,
Tennisstar, der im Finale gegen eine bis dahin unbesiegte Brandmauer
antrat. Ich ließ vor meinem Aufschlag den Ball auftitschen wie er. Ich
leckte meine Lippen wie er. Ich schälte sogar meine Bananen wie er.
»6:1, 6:0, 6:1!«, brüllte die innere Stimme jetzt, »anders als der
falsche Boris Becker gewinnt der echte zum dritten Mal in Folge
Wimbledon! Und jetzt überreicht ihm die Herzogin von Kent auch schon den
goldenen Pokal!«
Heute klingt das alles bescheuert, oder?
Aber als Kind habe ich mir Baugenehmigungen für Luftschlösser erteilt.
Wenn ich an früher denke, schlendere ich als Fußballgott und Tenniskönig
durch gleißend helle Nachmittage. Ich habe immer Zeit. Und es ist immer
Sommer. Ein größeres Kompliment kann die Erinnerung der Kindheit nicht
machen.
Wenn es regnete? Habe ich den Tropfenrennen am
Fenster zugesehen oder die Holzvertäfelung neben meinem Bett angestarrt.
So lange, bis sich aus der Maserung Berge erhoben und sich die
Astlöcher in Vulkankrater verwandelten. Kennst Du das auch?
Ich
habe mal gerechnet: Du wirst in den Schulklassen fünf bis zwölf 1200
Stunden mehr Schule haben, als ich es hatte. 1200 Schulstunden! 1200-mal
45 Minuten. Das sind 600 Fußballspiele. Das ist die Zeit, in der ich
Karl-Heinz Rummenigge und Boris Becker war. In der ich zum Golfplatz
radelte und mit einem flinken Griff durch den Zaun eine Handvoll Bälle
klaute, weil ich das für rebellisch hielt. In der ich mir ein Segelboot
aus Holz baute, das dann leider auseinanderfiel. Erfahrung entsteht nur
beim Gehen von Umwegen, heißt es. Ich hatte Zeit, um Zeit zu
verschwenden! Mich zu irren. Fehler zu machen. In eine Sackgasse zu
laufen und wieder zurückzugehen.
Mach auch mal Fehler,
Marie! Sachen, die wir Eltern für falsch halten. Du bist ja schon
vernünftiger als wir: Als ich Dich neulich gefragt habe, ob ich
mittwochs mal schwänzen soll, den Kollegen bei der Zeitung sagen, ich
würde zu Hause arbeiten, in Wahrheit aber mit Dir schwimmen gehen, hast
Du geantwortet: »Ich habe keine Zeit. Ich kann nur an Wochenenden.«
An
Deinen Lehrern liegt das kaum. Deine Schule erscheint mir als eine der
besseren in einem schlechten System – fast wie das Richtige im Falschen.
Du hast zwei Klassenlehrer, nicht nur einen. Die beiden strahlen eine
Gelassenheit aus wie Teetrinker in der Espresso-Gesellschaft. Du hast
bei ihnen zunächst das Lernen gelernt: Ich beginne meine Hausaufgaben
mit etwas Einfachem und Interessantem. Ich lege Pausen bei meinen
Hausaufgaben ein. Ihr bekommt Übungsarbeiten mit nach Hause, damit Ihr
wisst, was Ihr Euch einprägen müsst (und was nicht...). Ihr bewertet
Euch mit Selbstkontrollbögen: Was kann ich schon? Was noch nicht? Auf
den Elternabenden fragen Eure Lehrer uns: »Sollen wir weniger
Hausaufgaben aufgeben, damit den Kindern mehr Zeit bleibt? Oder mehr,
damit sie den Stoff besser verstehen?«
Auf dem anderen Gymnasium in unserer kleinen Stadt hagelt es Fünfen und Sechsen, und Kinder geben halb leere Arbeitsblätter ab.
An
deiner Schule haben die Lehrer hier und da die Lehrpläne entrümpelt.
Und sie haben das Fach »Science« erfunden: Biologie, Physik und Chemie
in einem. Wenn Ihr über Vögel sprecht (Biologie!), lernt Ihr auch, wie
an ihren Flügeln Auftrieb entsteht (Physik!). Wenn Ihr über die Lunge
und das Atmen sprecht (Biologie!), redet Ihr gleich über Sauerstoff und
Stickstoff (Chemie!). Es gibt Lehrer anderer Gymnasien, die bei Euch
lernen, wie man Science unterrichtet. Es gibt Verlage, die ihre
Schulbücher den Ideen Deiner Lehrer anpassen. Ihr habt in Klasse fünf
jeweils sechs Stunden Englisch, Mathe und Deutsch pro Woche, damit Ihr
in Klasse sechs nur mehr vier braucht – denn dann kommt ja noch
Französisch oder Latein hinzu. Eure Klassenlehrerin hat sich drei statt
zwei Stunden Musik erkämpft, in denen sie mit Euch singt und lacht.
Deine Lehrer nennen das »Stunden zum Ausatmen«. Auch deshalb also habt
Ihr so viel Unterricht.
Warum sollten Lehrer Euch auch von
der Schule fernhalten? Uns Eltern aber hat der Soziologe Hartmut Rosa
Hausaufgaben aufgegeben: »Es muss Nachmittage geben, an denen nichts im
Terminkalender steht. Oder an denen NICHTS! im Terminkalender steht.«
Ich
hätte zwar lieber mit den Finanzministern, diesen Sparschweinen,
gestritten, als schon wieder in Dein Leben einzugreifen, Marie – aber
als Du das Gitarrespielen aufgegeben hast, war das nicht nur Dein
Wunsch, sondern auch der von uns Eltern. Damit Du weiter Basketball
spielst. Denn da bist Du mal keine Einzelkämpferin.
Jetzt
hängt Deine Gitarre an einem Haken neben Deinem Schreibtisch, und ich
frage mich: Wirst Du uns später einmal übel nehmen, dass Du nur zuhören
kannst, wenn andere Musik machen?
Ist es Zufall, dass Dein
Freundeskreis nur noch aus Klassenkameradinnen besteht? Oder liegt es
daran, dass Ihr im selben Rhythmus lernt und lebt?
Wie viel Platz wird Dir Dein Alltag für Liebeskummer lassen? Für die Pubertät? Für den Aufstand?
Wird Dir jemals ein Lehrer erzählen, dass das Wort Schule aus dem Griechischen stammt und eigentlich »freie Zeit« bedeutet?
Warum
wird das Buch einer verkniffenen chinesisch-amerikanischen Mutter, die
über das Drillen ihrer Töchter schreibt, in Deutschland ein Bestseller?
Wieso beschäftigen wir uns ernsthaft mit dieser Frau, die ihren Töchtern
droht, die Stofftiere zu verbrennen, wenn sie faul sind?
Woher
kommt unsere Globalisierungsangst? Die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland ist viel geringer als in Frankreich, Italien, Spanien. Unser
Land ist klein, aber unsere Wirtschaft ist die viertgrößte der Welt.
Wir verkaufen Autos, Windräder und Medikamente überallhin. Und sind all
die Erfinder, Konzernchefs und Gewerkschaftsführer nicht dreizehn Jahre
aufs Gymnasium gegangen?
In wie vielen Familien
kreisen die Gespräche nur noch um Schule? Hast Du die Vokabeln drauf?
Bist Du fit für die Arbeit? Schreibe eine möglichst kleine Zahl auf,
indem Du jedes der folgenden römischen Zahlzeichen genau einmal
verwendest: M, C, I, X, V.
Nicht dass Du mich falsch
verstehst, Marie: Die Schule ist nicht fürs Kinderglück verantwortlich.
Dafür sind wir Eltern zuständig. Und Schüler müssen nun mal lernen. Aber
sie müssen auch Zeit haben für eigene Entdeckungen.
Wir
üben jetzt oft gemeinsam. Manchmal gibt es Krach, manchmal erleben wir
innige Momente: dieses wärmende Glück, wenn wir beide wieder etwas
begriffen haben, wenn die Erkenntnis durchbricht wie die Sonne nach drei
Tagen Regen! Du hast gelernt, wie die Ägypter ihre Pyramiden bauten.
Warum ein Londoner Vorort mit Namen Greenwich weltbekannt ist. Dass es
am Horizont einen Fluchtpunkt gibt, auf den alle Linien zulaufen. Jede
Schulstunde kann ein Geschenk sein. Und alles zusammen fügt sich zu
einem Schatz. Kostet es zu viel Kraft, zu viel Zeit, zu viel Leben, ihn
zu heben?
Euer Schuldirektor sagt: Nein. Das sei nur die
übliche Sorge der Eltern, deren Kinder von der Grundschule aufs
Gymnasium wechseln. Das größte Problem der Schulzeitverkürzung sei
»mangelnde Akzeptanz«. Also Leute wie ich!
Er sagt das aus
einer privilegierten Position heraus, so wie ich diesen Brief aus einer
bevorzugten Lebenslage schreibe: Dein Direktor leitet ein
Vorstadtgymnasium in einer besseren Gegend. In Eurer Schulkantine
servieren »Kochmütter« das Mittagessen. Es gibt aber auch Frauen, die
bis abends arbeiten möchten (Du später vielleicht auch!).
Alleinerziehende Eltern, die das müssen. Und Väter und Mütter, die keine
Lust haben, mit ihren Kindern zu lernen, die gibt es auch.
Was wird aus diesen Schülern?
»Die
Übungsphasen, die dazu da sind, Stoff zu vertiefen, sind nach Hause
verlagert worden. Kinder, die niemanden haben, der ihnen bei den
Hausaufgaben hilft, kommen schlecht weg«, sagt Heinz-Peter Meidinger. Er
ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Das ist ein
Zusammenschluss von Lehrern, die an Gymnasien arbeiten.
Ich
habe im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium nachgefragt: Der
Anteil der Schüler, die nach der sechsten Klasse die Gymnasien verlassen
müssen, hat sich verdreifacht. In Bayern macht die erste G-8-Generation
gerade Abitur – seit der fünften Klasse sind dort 31 Prozent aller
Schüler auf der Strecke geblieben. Bei G9 waren es 22 Prozent. Diese
Kinder wurden »abgeschult«, so nennt man das in den Statistiken.
Es
klingt fast weltfremd, wenn die Kirche gegen dieses eiskalte Wort
protestiert und daran erinnert, dass »jeder Mensch mit reichen und
vielseitigen Anlagen beschenkt« sei. Bildung müsse auch die »Kräfte der
Fantasie, der Liebe, des seelischen Erlebens und des moralischen
Wertens« wecken.
Der Pädagoge Andreas Gruschka sagt: »Es
kommt nicht mehr Saft aus einer Zitrone, wenn man mehr presst.« Gruschka
selber ist zweimal sitzen geblieben und trotzdem Professor geworden. An
der Goethe-Universität in Frankfurt am Main erforscht er, wie Lehrer
unterrichten und wie Kinder lernen. Er meint: Ihr paukt zwar viel, aber
Ihr habt nicht viel davon. Euch fehlt die Zeit, wirklich zu kapieren,
was die Lehrer Euch erzählen. Und darüber eine eigene Meinung zu bilden.
Er sagt: »Die Kinder heute lernen Organisation und Präsentation.«
Referate, Wochenpläne – er hält das alles für eine Vorbereitung auf ein
kritikloses Büroleben, in dem der Chef in der Tür steht und sagt: »Frau
Müller, stellen Sie mir bis Freitag bitte alles über die indischen
Märkte zusammen!«
G8 habe »für 25 bis 30 Prozent der
Gymnasiasten mehr gebracht – für die anderen wäre G9 vorteilhafter
gewesen«, sagt der Münchner Bildungsforscher Kurt Heller, ein Pädagoge
und Psychologe. Das ist besonders interessant, weil niemand in
Deutschland so gründlich zu dem Thema geforscht hat wie er: In den
neunziger Jahren hat Heller in ein paar baden-württembergischen
Gymnasien G8 ausprobiert – mit durchschnittlich 16 Schülern pro Klasse.
Am Ende empfahl er: Es sollte G8-Schulen und G9-Schulen geben. Aber
dann, sagt Heller heute, habe die Politik überall das Turbo-Abi
eingeführt. Der Professor hat sehr frustriert geklungen, als er mir
gesagt hat: »Ist leider so gelaufen.«
Philologen und
Psychologen, Pädagogen und Prozente – wie schnell wird der Streit um
Eure Schulzeit abstrakt und entfernt sich wieder aus der Wahrnehmung der
Kinder. Und weg von tausend kleinen Lebenswirklichkeiten.
Es
gibt einen Arzt in Bremen, der heißt Stefan Trapp und hat vor drei
Jahren einen Brief an die Bildungssenatorin seiner Stadt geschrieben.
Darin steht: »Als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt wie auch als
betroffener Vater erlebe ich die Folgen der Verkürzung des Gymnasiums
auf acht Jahre täglich in Praxis und Familie.« Seine Patienten zeigten
Symptome, die sonst bei gestressten Managern auftreten. Kopfschmerzen
und Erschöpfungszustände, auch Traurigkeit und Angst. Die Senatorin hat
ihm bis heute nicht geantwortet. Aber weil Trapp in seiner Stadt ein
bekannter Mann ist und den Bremer Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte leitet, hat eine Zeitung seinen Brief abgedruckt.
Trapp
ist noch jung. Er trinkt Cola und isst gerne Kuchen, obwohl das nicht
gesund ist. Er ist ein fröhlicher Arzt, solange er nicht von den müden
Mädchen und Jungen in seinem Sprechzimmer erzählt. Er sagt: »Früher
hatten Kinder Kopfschmerzen, weil sie eine Brille brauchten. Heute, weil
sie beim Gedanken an die Schule mittlerweile die Gefahr des Scheiterns
mitdenken.« Er behandelt Schüler mit Schlafstörungen und Depressionen.
Das sind Krankheiten, die früher bloß Erwachsene bekamen, die richtig
Pech hatten. »Die Rolle des Gymnasiasten als Sorgenkind ist neu«, sagt
Trapp. Gymnasiasten sind seltener dick, essen meist gesünder und prügeln
sich kaum. »Aber die Schulzeit ähnelt immer mehr einer anspruchsvollen
Bürotätigkeit – kein Wunder, dass sich auch die Krankheitsbilder
ähneln.« Wie sollen Jugendliche mit Anforderungen fertigwerden, an denen
Erwachsene scheitern? Zumal sie dauernd beobachtet und benotet werden.
Alle sind unzufrieden: Schüler, Eltern und Lehrer. Alle haben Stress.
Und in diesem Gezerre sind die Kinder die Schwächsten.
Warum
schützen wir die Schwächsten nicht mehr? Auch nicht die Aufmüpfigen,
die Sperrigen, die unser Tempo bremsen? Ich sage Dir, Marie: weil wir
Erwachsenen die wahren Streber sind! Weil wir zu feige sind, mal richtig
wütend, richtig sperrig, richtig uncool zu sein.
Vor
einigen Monaten hat der neue Bildungsminister in unserem Bundesland alle
Gymnasien abstimmen lassen, ob sie das neunte Schuljahr zurückhaben
wollen. Die Lehrer Deiner Schule haben sich entschieden, bei G8 zu
bleiben. Einstimmig, sagt der Direktor. Ich kann mir vorstellen, dass
viele aus Stolz auf ihre eigenen Ideen so entschieden haben. Manche aus
Erschöpfung nach all den Konferenzen. Andere, weil sie finden, dass
nicht nach jeder Landtagswahl alles geändert werden sollte, dass zu
viele Rollen rückwärts schwindlig machen. Und einige vielleicht auch aus
Respekt vor dem Direktor.
Wochenlang habe ich versucht,
mit der Schulpsychologin unseres Landkreises zu reden. Aber sie hat mir
in kurzen Mails geantwortet, für ein ausführliches Gespräch habe sie
keine Zeit – und für ein kurzes Telefonat sei das Thema zu wichtig. Auch
das meine ich mit Feigheit, Marie.
In Bremen fragt der
Kinderarzt Stefan Trapp die Schüler in seiner Praxis: Warum kommst du zu
mir? Was machst du in deiner Freizeit? Was tust du gern? Was würdest du
gern tun? Wann fühlst du dich wohl? Wenn die Antwort lautet: Ich war
das letzte Mal in den Ferien froh, dann ist das ein Problem. Auch für
ihn. Ein Arzt will heilen, nicht nur herumdoktern. Mit Scharlach oder
Läusen ist Trapp immer fertiggeworden, aber wie kann er einem mutlosen
Kind helfen? »Wenn jemand krank wird durch die Schule, ist eine
Therapie, eine ursächliche Therapie, nicht möglich«, sagt Trapp. Das
bedeutet: Wer sich einen Arm gebrochen hat, bekommt einen Gips und
braucht Geduld. Wer eine Pferdeallergie hat, kann mit dem Reiten
aufhören. Aber wen das Lernen krank macht, der kann nicht die
Schule abschaffen.
Unsere Gesellschaft ist dringend auf
jedes einzelne Kind angewiesen – aber es wird so getan, als ginge es
immer nur um die Stärksten und Schlausten. Als könnten wir auf alle
anderen Kinder verzichten.
Weißt Du, was passiert ist, als
eine Mutter eine Lehrerin Eurer Schule gefragt hat, ob sie nicht zu
schnell zu viel von Euch verlangt? Da hat die – eine junge Frau – kühl
geantwortet: »Sicher ist dieses Lernen nicht für alle geeignet.« Und
Klassenarbeiten seien dazu da, »zu überprüfen, ob die Kinder auf dem
Gymnasium Schritt halten können«.
Weißt Du, was das bedeutet, Marie?
Ich
werde es Dir erklären: Es bedeutet, Klassenarbeiten sollen nicht nur
helfen, herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu
sorgen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch
helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine Lehrerin hat
nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, »damit« Kinder Schritt
halten können. Sondern zu prüfen, »ob«.
Meine Lehrer
hätten so etwas nie gesagt, selbst wenn sie heimlich so dachten. Du
wirst das verrückt finden, Marie: Als vor 25 Jahren in der Ukraine ein
Atomkraftwerk explodierte, schickten meine Lehrer uns zum Demonstrieren!
Als vor 20 Jahren in Kuwait ein Krieg losbrach, ließ mein Mathelehrer
uns aus Protest nicht mit Äpfeln und Birnen rechnen, sondern in der
Recheneinheit »Leichensäcke«. Das hört sich ziemlich grotesk an, was?
Einige meiner Lehrer sprachen im Unterricht voller Pathos, wie ein
Pastor in der Sonntagspredigt. Aber es ging ihnen darum, uns
mitzureißen. Uns zu gewinnen. Wenn auch nur für ihre eigenen Träume von
einer besseren Welt.
Und jetzt? Spricht diese Lehrerin wie
die Jurypräsidentin einer gigantischen Castingshow – in der nicht
Werbeverträge vergeben werden, sondern Lebenschancen. Und zwar nur an
die Passgenauen.
Das macht mich wütend. Sie hat G8 zwar
nicht erfunden – aber sie hat sich damit abgefunden. Mindestens das.
Andererseits gibt sie nur den Druck weiter, den andere aufgebaut haben.
Und zu diesen anderen gehöre – ich. Die Versuchung, mit Dir auf die Jagd
nach immer besseren Noten zu gehen, ist so groß. Wie schnell passiert
es, dass ich eine gute Klassenarbeit nach den wenigen Fehlern ausspähe,
nicht nach den korrekt gelösten Aufgaben. Es gibt Eltern in unserer
Stadt, die ihren Kindern das Taschengeld kürzen, wenn die keine Eins
heimbringen. Die mit all den fleißigen Chinesenkindern drohen, von denen
wir noch gar nicht wissen, ob die ganze Paukerei sie wirklich schlau
macht oder bieder.
Wenn Du Geburtstag feierst und Deine
Klassenkameradinnen kommen, freue ich mich über all die wohlerzogenen
Kinder, die den ganzen Tag keine Mühe machen – aber ich wundere mich
auch. Wo sind die Querköpfe, die Nervensägen, die Rotznasen? Wer hat sie
aussortiert?
Vor fünf Jahren hat ein Kollege in dieser
Zeitung geschrieben, er finde die verkürzte Schulzeit gut, denn es sei
noch »Luft im System«. Schon möglich. Aber ist Luft schlecht? Ist sie
nicht zum Atmen da? Und lernt, wer atmen darf, nicht sogar mehr? Oder
jedenfalls lieber?
Das Gerede von der »Luft im System« ist
gefährlich, Marie. Man kann so lange sagen, es sei »Luft im System«,
bis keine mehr da ist.
Wir haben Euer Leben den Regeln der
Wirtschaft unterworfen: In einem Motor kann Luft schaden, in einem
Windkanal ist Druck sinnvoll. Aber wer hat uns eingeredet, dass ein
beschleunigtes Leben ein gelingendes Leben ist? Wenn ich sehe, wie
Manager auf Flughäfen und in ICE-Abteilen ihre iPhones und BlackBerrys
anstarren, auf eingehende Mails so angewiesen wie Junkies auf
Rauschgift, und wenn ich höre, wie sie endlos von »Quartalszahlen«,
»Jahresabschlüssen« und der Marktforschung faseln, die sie nur noch
»Mafo« nennen, wie sie von Hamburg nach München fahren, ohne dabei auch
nur einen einzigen eigenen Gedanken zu äußern – dann glaube ich, wir
sollten uns kein Beispiel an ihnen nehmen.
Es wäre schön,
wenn Ihr später nicht nur Zahlen lesen könntet. Sondern auch die
Menschen hinter den Zahlen erkennen würdet. Wenn Bildung hieße: mit
Wissen vernünftig umgehen. Der Schriftsteller Erich Kästner, von dem Du
Das doppelte Lottchenkennst, hat das viel schöner gesagt: »Der Mensch
soll lernen, nur die Ochsen büffeln.«
Wir haben Eure
Lebensläufe begradigt wie die Flüsse. Wo wir noch mäandern konnten, uns
treiben ließen, rauscht Ihr geradeaus durch. Es wäre schade, wenn dabei
alles an Euch glatt geschliffen würde, wenn von Eurer Persönlichkeit
nicht mehr viel übrig bliebe. Das hört sich sehr hässlich an, Marie,
aber: Ich habe nicht nur Mitleid mit Euch als Kindern. Ich habe auch ein
bisschen Angst vor Euch als Erwachsenen.
Wenn Du
Abitur machst, wirst Du 17 sein. Mit 17 lassen wir Euch nicht alleine
Auto fahren und keine Mietverträge unterschreiben. Wenn Du Pech hast,
musst Du Dich für ein Leben als Lehrerin, als Mathematikerin, als
Managerin entscheiden, bevor Du überhaupt weißt, was Du kannst, was Du
willst, wer Du bist. Falls Du dann ein eiliges Bachelorstudium
durchhastest, wirst Du mit 20 die Universität verlassen. Worauf haben
wir uns da nur eingelassen? Wollen wir, dass unsere Enkel von
21-jährigen Lehrern unterrichtet werden, die kaum mehr von der Welt
gesehen haben als Legehennen? Wollen wir uns von 22-jährigen Bankern mit
Geradeausbiografien betreuen lassen? Uns von 23-jährigen
Unternehmensberatern begutachten lassen?
Wenn Dich Deine
Lehrer, unsere Nachbarn oder die Eltern Deiner Freundinnen jetzt fragen,
warum Dein Vater so aufgebracht ist, dann musst Du wissen: Es liegt
nicht an Dir. Wer glaubt, ich schreibe hier gegen schlechte Noten an,
der hat nichts begriffen. Deine Zensuren sind gut. Ich bin zornig, weil
wir Eure Kinderzimmer zu Büros gemacht haben, Eure Schreibtische zu
Werkbänken, Eure Köpfe zu Lagerhallen.
Wenn sie Dir sagen,
es ist doch nur das eine Jahr, dann antworte ihnen, es geht um
Millionen beschleunigter Leben. Und wenn sie Dich fragen: »Acht oder
neun Jahre, ist das nicht einerlei?«, dann sag ihnen: Was wäre los, wenn
die Lokführer plötzlich 15 Prozent mehr arbeiten müssten? Dieses Land
stünde still, über Wochen. Die Tagesschau würde Abend für Abend mit
Streikmeldungen beginnen. Es gäbe Demonstrationen, auf denen wütende
Männer rote Fahnen schwenken. Es gäbe aufgeregte Talkrunden im
Fernsehen, in denen die Erwachsenen »Ausbeutung« und
»Raubtierkapitalismus« brüllten.
Natürlich frage ich mich:
Ist eine Sache nicht nur dann schlimm, wenn Du, Marie, sie selber
schlimm findest? Habe ich Dich mit diesem Brief zum Faulenzen
aufgefordert, Dir Ausreden und Ausflüchte in den Mund gelegt? Habe ich
Dich verwirrt? Dir überflüssige Sorgen gemacht? Ich hoffe fast, dass Du
diesen Brief inzwischen zur Seite geschoben hast und irgendwo
Waveboard fährst, weil Du das Geschreibsel hier dröge findest und
sowieso Quatsch ist, was von den Eltern so kommt.
Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du
sollst wissen, warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein
Zirkuspferd – und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der
Schule zu fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen, warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und
Du sollst wissen, dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte.
An jedem Tag, an jedem Wochenende – und nach dem Abitur. Am besten kein
Auslandsstudium. Kein Sommerseminar. Sondern einfach eine Reise ohne Weg
und ohne Ziel. Denn wenn Du Deine Seele bis dahin nicht in einem
Klassenzimmer gefunden hast, wirst Du sie auch in einem Hörsaal nicht
finden. Aber vielleicht tief in einem finnischen Wald, mitten in einem
äthiopischen Dorf oder auf der Sitzbank eines amerikanischen
Überlandbusses. Irgendwo, irgendwann, wenn Du es nicht erwartest.
Und
ich hoffe, dass Du mich dann, wenn es losgehen soll, nicht mitleidig
anschaust und sagst: »Das ist doch reine Zeitverschwendung.«
Quelle:
http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8
Ich denke, dass es höchste Zeit ist daran etwas zu ändern. Kinder sollen Kind sein dürfen und es liegt an uns Erwachsenen, ob sie diese Möglichkeit erhalten oder nicht.
Natürlich müsst ihr eurem Kind kein Reisejahr finanzieren, den Freizeit sollte im Alltag selbstverständlich sein.
Kinder brauchen die Möglichkeit sich auszuprobieren. Was gefällt mir? Was gefällt mir nicht? Wer bin ich und was habe ich hier zu tun?
Wer von uns Erwachsenen kann dies schon mit Bestimmtheit sagen? Warum geben wir unseren Kindern dann nicht die Möglichkeit dies heraus zu finden, bevor sie sich für einen Beruf entscheiden der sie 40 Jahre lang, oder noch länger, quällt?
Jetzt ist nicht nur die große Zeit der Transformation in eine neue Dimension. Jetzt ist vorallem auch die Zeit unser "bewährtes" System zu überprüfen und Änderungen an all den mangelhaften Stellen vorzunehmen die uns dabei auffallen.
Unser Schulsystem gehört dazu!
Was ist deine Meinung dazu? Ist es Sinnvoll unseren Kinder mehr "Freizeit" zu geben?
Mahalo!
Bella von Avalon